Jeder Mensch besitzt die Fähigkeit zu einem fundierten geistigen Schauen. Nur wird diese Fähigkeit in der Regel nicht bewusst gebraucht. Die meisten Menschen lassen diese Fähigkeit, ähnlich wie beispielsweise das Singen oder sogar die Fähigkeit des zielgerichteten Denkens, mehr oder weniger brachliegen, ohne sie zu einem brauchbaren Werkzeug auszubilden. Geistiges Schauen tritt im Alltag immer wieder sporadisch auf. Wir sprechen dann von guter Intuition oder von einem sechsten Sinn, mit dem wir eine Sache erfassen. Geistiges Schauen kann aber ähnlich wie ein Musikinstrument oder eine Fremdsprache praktisch erlernt und trainiert werden. Wird diese Fähigkeit nur zu einem geringen Grad entwickelt, zeigen sich bereits äußerst weitreichende und wohltuende Wirkungen. Wir können dann nicht nur etwas für uns selbst, sondern vor allem auch für andere tun, für die Mitmenschen, für die Natur, für Kranke und sogar für verstorbene Angehörige.
Die Schulung und Ausbildung eines geistiges Schauen ist eine zugleich wissenschaftliche, philosophisch-gedankliche wie auch empfindungsvolle seelische Tätigkeit. Jede Wissenschaft ist in diesem Sinne eine geistige Betätigung, auch dann wenn sie sich, wie unsere universitäre Wissenschaft, ausschließlich mit den materiellen Phänomenen des Daseins beschäftigt, denn die Begriffe, die die Wissenschaft verwendet, die Theorien, die sie aufstellt, und die Logik, die sie anwendet, ist geistiger Art. Auch die Mathematik ist rein geistiger Natur. Geistiges Schauen ist deshalb keine spezielle Form der Mystik oder das Ergebnis einer unkonkreten Esoterik, sie ist kein Schwelgen in Gefühlen oder esoterischen Erfahrungen, sondern eine rationale, klare, konkrete Ausbildung des eigenen Denkens, Fühlens und Willens, sowie ein bewusster Gebrauch dieser Kräfte.
Geistiges Schauen wendet sich nicht nur an die Phänomene der physisch wahrnehmbaren Welt, sondern primär an jene, die mit den physischen Sinnesorganen nicht wahrnehmbar sind. Hierzu zählen beispielsweise das Licht mit seinen unterschiedlichen Qualitäten, die Kräfte des Lebendigen in der Natur, in Pflanzen, Tieren und Menschen (Ätherkäfte). Das, was das Wesen eines Menschen oder einer Sache ausmacht bzw. seelische oder geistige Bedeutung einer Sache, die Signatur einer Pflanze und die sogenannte Elementargeistigkeit in der Natur. Zu den metaphysischen Objekten zählen auch die Aura des Menschen und im weiteren Sinne die geistigen Kräfte, wie bestimmte Gedankenformen und Engelswesen. Mit einer Schulung zum geistigen Schauen wollen wir einen Sinn entwickeln für Bereiche, zu denen wir noch keine oder nur wenig direkte Wahrnehmung besitzen.
In unserer Kultur ist geistiges Schauen zu einem gewissen Grad verpönt. Man spricht nicht gerne darüber. Es sei nur etwas für Weltenflüchter, Träumer und Phantasten. Bestenfalls wird es in das Gebiet der Religion verbannt und als eine Sache des Glaubens angesehen. Man kennt vielleicht Zeugnisse eines solchen Schauvermögens von religiösen Visionären, wie z.B. Hildegard von Bingen und anderen Mystikern. Diese Visionen sind heute aber zumeist schwer verständlich und wir finden normalerweise kaum Zugang zu ihren Aussagen und ihrem inneren Gehalt. Das geistige Schauen mit seinen einfachen und doch weisheitsvollen Prinzipien und seiner inneren Logik ist deshalb eigentlich nahezu unbekannt.
Geistiges Schauen ist keine Gruppenangelegenheit und unabhängig von religiöser oder philosophischer Zughörigkeit. Es ist nicht einer Gruppe sondern nur dem einzelnen Menschen möglich und es ist nicht an Rituale und Gebräuche gebunden.
Die einzige Voraussetzung zur Schulung des geistigen Schauens liegt in der Bereitschaft, die Existenz einer geistigen Dimension, die allem Sein zugrunde liegt, überhaupt anzuerkennen oder wenigsten für möglich zu erachten, sowie in dem Willen, diese geistige Dimension nicht nur gläubig anzunehmen, sondern direkt zu erforschen. Der Übende muss die Bereitschaft aufbringen, das Leben in seinen vielfältigen Ausdrucksformen zu hinterfragen und sich dabei nicht auf die Autorität anderer oder einer Gruppe zu verlassen, sondern die eigene Gedanken- und Empfindungskraft zu gebrauchen.